Vom 27. Februar bis 1. März 2015 fand das zweite „Überregionale Treffen freireligiöser und unitarischer Gemeinden“ in unserer Gemeinde statt. Ein besonderer Höhepunkt des Treffens war sicherlich die Abschlussfeierstunde am Sonntag. Die Ansprache hielt Dennis Grieser, ein Mitglied unserer Frankfurter Gemeinde. Um dem Wunsch vieler Teilnehmer des Treffens zu entsprechen, ist diese Rede nachfolgend abgedruckt. Ausgangspunkt der Ansprache war ein Gedanke Forrest Churchs, eines US-amerikanischen unitarischen Pfarrers:
Stell Dir eine Kathedrale vor, so alt wie die Menschheit. Selbst wenn Du sie Dein ganzes Leben lang durchstreifen würdest, Du könntest sie nie ganz erforschen. Schau Dir nun die unzähligen bunten Fenster an. Jedes spiegelt auf seine Weise Schönheit wider. Jedes Fenster erzählt eine Geschichte über das Universum, den Sinn des Lebens, die Natur des Menschen, das Geheimnis des Todes. Durch diese Fenster fällt das Licht in die Kathedrale. Das Licht selbst werden wir nie erblicken können. Genauso wenig, wie wir in die Sonne schauen können, ohne zu erblinden. Wir sehen immer nur das durch das Glas der Fenster gebrochene Licht. EIN Licht – viele Fenster. EINE Wirklichkeit, die durch jedes Fenster scheint. Jede Religion und jede Weltanschauung hat ihr Fenster, durch das sie diese Realität wahrnimmt und interpretiert. Keiner kann die Realität hinter den Fenstern, das Licht selbst, beschreiben. Es bleibt für uns für immer unerreichbar. Diese Metapher ist wie jede andere unvollkommen. Sie erinnert uns aber daran, bescheiden und demütig zu bleiben, besonders dann, wenn wir glauben, im Recht zu sein. Sie erinnert uns daran, anderen gegenüber Respekt aufzubringen, deren Abbild des letzten Grundes von unseren Vorstellungen abweicht. Weder dürfen wir glauben, dass das Licht nur durch unser Fenster scheint, noch dürfen wir zulassen, dass die Fenster anderer Menschen eingeworfen werden. Vielmehr sollten wir – wachgeküsst durch das eine Licht, das durch viele Fenster scheint – in der Kathedrale stehen und staunen.
Ansprache
In der Lesung haben wir die Beschreibung der „Kathedrale der Welt“ des unitarischen Theologen und Buchautors Forrest Church gehört. Er war bis zu seiner Krebsdiagnose im Jahre 2006 Pfarrer der Unitarian Church of All Souls in Manhattan, einer der größten unitarisch-universalistischen Gemeinden in den USA. Ich kann recht sicher sagen, dass ich ohne seine Bücher heute nicht hier stehen würde. Etwa eineinhalb Jahre vor seinem Tod im Jahre 2009 veröffentlichte er sein vorletztes Buch mit dem Titel „Love & Death“, also „Liebe & Tod“, in dem er auf einer der letzten Seiten schrieb:
„Als ich in den 1970er Jahren meine Tätigkeit als Pfarrer aufnahm, habe ich so gut wie möglich versucht, das Wort „Gott“ zu vermeiden. Es machte mich verlegen und ich fühlte mich peinlich von ihm berührt. Aber noch wichtiger: Ich wollte vermeiden, dass andere Menschen glauben könnten, dass ich mit dem Wort „Gott“ jene kleine, den Menschen verurteilende und vermenschlichte Gottheit meinen könnte, an die so viele Menschen denken, wenn sie das Wort hören.“
Seine Reise begann, wie er selbst ausführte, als „religiöser Skeptiker“. Viele von uns – mich eingeschlossen – können aus ihrer eigenen Biographie sicher Ähnliches berichten.
Ich bin in keinem religiösen Elternhaus aufgewachsen. Ich wurde zwar als letzter in meiner Familie katholisch getauft, aber meine Eltern traten aus der Kirche aus, als ich vier Jahre alt war. Dies war auch das Ende meiner „katholischen Laufbahn“. Ich besuchte zwar 13 Jahre lang den evangelischen Religionsunterricht, aber während der neun Jahre im Gymnasium habe ich dem Fach nur die Treue gehalten, um meinen Religionslehrer Jahr für Jahr weiter zu quälen.
Mein Vater starb, als ich elf Jahre alt war. Die damit einhergehende Wut auf diese ungerechte „kleine Gottheit“, wie sie Forrest Church bezeichnet hat, ließ mich zu einem zutiefst überzeugten atheistischen Teenager werden, der erst seine Freude an der stoischen Ethik fand, schließlich aber bei Camus und Sartres Existentialismus landete. Ich zwang schließlich meinen Religionslehrer zu seiner ersten mündlichen Abiturprüfung seit Jahren. Offensichtlich hat er die Ironie der ganzen Situation aber erkannt und wählte die Religionskritik Ludwig Feuerbachs als Thema der Prüfung. Für diejenigen, die mit Feuerbachs Kernthesen nicht vertraut sind, nur so viel: Für Feuerbach ist der Begriff „Gott“ lediglich eine Projektionsfläche des Menschen für seine unerfüllten Wünsche und positiven Eigenschaften. Die Religion müsse deshalb zu Gunsten einer Lehre des Menschen umgewandelt werden; es sei die Aufgabe des Menschen, dem Menschen zu helfen.
Was soll ich sagen? Ich habe mein Abitur bestanden, und dass mein Lehrer die Diskussionen mit mir gut überstanden hat, zeigte sich auch darin, dass er mich nach dem Abitur zum Kaffeetrinken und Kuchenessen zu sich nach Hause einlud. In der Folgezeit begann ich aber nachzudenken. Ich empfand es als wichtig, mich mit den Weltreligionen genauer zu beschäftigen. Am Anfang aus Neugierde, weil ich verstehen wollte, was Milliarden von Menschen hieran nur finden können. Aus der wissenschaftlichen Neugierde – aus der Perspektive eines unbeteiligten Dritten – wurde im Laufe der Jahre für mich persönlich aber mehr. Doch in den ersten Jahren kam ich immer wieder zu dem gleichen Ergebnis: Jedes Mal, wenn ich mich ausgiebig mit einer Religion befasst hatte, sagte mein Verstand zu mir: Das ist nicht die Deine.
Im Sommer 2001, also drei Jahre nach dem Beginn meines privaten Religionsvergleichs, bin ich zufällig im Internet auf die Website beliefnet.com gestoßen. Dort fand ich eine Anwendung, die sich Belief-o-Matic nannte. Sie stellt einem 30 spirituelle/religiöse Fragen und verspricht, den Anwender auf seine Kompatibilität mit 27 Weltreligionen und Weltanschauungen hin zu testen und das Ergebnis in Prozentzahlen auszudrücken. Was hatte ich schon zu verlieren? 30 Fragen später hatte ich ein Ergebnis, mit dem ich erst einmal gar nichts anfangen konnte: 100% Unitarian Universalist. Mein erster Gedanke war: Was ist denn das? Das Begriffspaar hatte ich noch nie gehört. Unitarisch? Universalistisch? Zwei sehr dogmatisch klingende Bezeichnungen, die zu einem Namen zusammengefügt wurden, sollten auf mich zu 100% passen? Ich war skeptisch.
Dank des ewigen Gedächtnisses des Onlinehändlers Amazon konnte ich in Vorbereitung auf die heutige Ansprache nachvollziehen, dass ich am 10. August 2001 das Buch „A Chosen Faith – An Introduction to Unitarian Universalism“, also eine Einführung zu dieser seltsam klingenden Religion, bestellt hatte. Ein Buch, das im wahrsten Sinne des Wortes mein Leben verändert hat wie kein anderes. Und wer konnte es anders als Koautor mitgeschrieben haben als Forrest Church, den ich zu Beginn ja bereits zitiert habe.
Bereits im Vorwort konnte ich Sätze finden wie „Eine Religion lässt sich nicht in einem Buch finden“ und „Wir sind uns darüber einig, dass jeder seine Glaubens- und Gewissensfreiheit ausleben können muss. Wir sind uns einig, Unterschiede in der persönlichen Auffassung zu respektieren. Wir wollen versuchen, durch den Dialog untereinander voneinander zu lernen.“ Außerdem die klare Aussage: „Wir missionieren nicht.“
Zentrale Punkte des Selbstverständnisses der amerikanischen Unitarian Universalists, mit denen sich die Autoren auf den folgenden 200 Seiten befassen, sind beispielsweise die angeborene Würde eines jeden Menschen, das Betonen der Wichtigkeit des Mitgefühls und der Empathie im Umgang miteinander, das Eintreten für Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit, die gegenseitige Akzeptanz und die Unterstützung bei der freien und selbstverantwortlichen Suche nach Wahrheit und Sinn im Leben und das Sich-selbst-bewusst-Machen, dass jeder mit seinen Mitmenschen und der Natur verbunden ist. Es muss mehr als Zufall sein, dass diese Grundprinzipien der Unitarian Universalists dem unitarischen Gelöbnis dieser Gemeinde hier sehr ähneln:
In Ehrfurcht vor Gott, Sinnbild des Ewigen und Unerforschlichen, will ich Achtung hegen vor der Würde des Menschen und allem Leben.
Ich will danach streben, mich selbst zu erkennen, selbst zu beherrschen und mein Wesen zu entfalten.
Ich will mich bemühen um Verständnis und Güte im menschlichen Zusammenleben.
Im Bewusstsein meiner Geistes-, Glaubens- und Gewissensfreiheit bekenne ich mich zur unitarischen Religion.
Die unverkennbaren inhaltlichen Parallelen der beiden formulierten Selbstverständnisse sind umso erstaunlicher, als dass mir kein bekannter Austausch über den Atlantik zwischen dieser Gemeinde und den Gemeinden in den USA in den letzten 100 Jahren bekannt ist. Es sollten allerdings zwischen meinem Entdecken der Unitarischen Universalisten in den USA im Jahre 2001 und dem Entdecken der Unitarier in Frankfurt für mich noch fünf Jahre liegen. Trotz des Internets war die Frankfurter Gemeinde nicht leicht zu finden. Anderen ging und geht es vielleicht auch heute noch so. Umso erstaunlicher war es für mich, später festzustellen, dass die inhaltlichen Parallelen Albert Schweitzer schon Jahrzehnte früher aufgefallen sind, zu einer Zeit, in der man an das Internet noch nicht gedacht hat und Informationen ungleich schwerer zu finden waren. Albert Schweitzer stand in brieflichem Austausch sowohl mit den amerikanischen Unitariern als auch mit der Gemeinde hier in Frankfurt. Ein Zufall wird wohl auch dies nicht gewesen sein. Ich las nach 2001 zwar viele Bücher über die amerikanischen Unitarian Universalists, aber trotz großer Sympathie hat es bis 2006 gedauert, bis ich begann, mich selbst als Unitarier zu definieren. Ich war bis zu diesem Zeitpunkt wohl einfach noch nicht bereit, mich selbst als religiösen Menschen zu sehen.
Dies änderte sich durch zwei Ereignisse im Jahre 2006: ein emotionales und ein intellektuelles. Der emotionale Grund lag darin, dass in diesem Jahr mein Großvater starb, der zweite große Verlust in meinem Leben. Doch anstatt wie als Teenager mit Wut den Weg des Atheismus einzuschlagen, habe ich dieses Mal akzeptieren können, dass der Tod zum Leben dazugehört und so wunderbar unbegreiflich ist wie die Geburt eines Menschen. Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Das sind vielleicht die ältesten Fragen der Menschheit und die religiösesten.
Oder wie Sigurd Taesler, ein ehemaliger Pfarrer dieser Gemeinde, es ausgedrückt hat: „Die Grenzen des Lebens sind ins Dunkel gestellt. Wir kommen aus dem Unbekannten ins Unbekannte und stehen schweigend und ehrfürchtig, vertrauensvoll und zuversichtlich vor dem Geheimnis des Todes. Wir empfangen unser Leben und kehren wieder in die Ewigkeit zurück. Woher? Wohin? Wir wissen nur: aus der Ewigkeit in die Zeit, aus der Zeit in die Ewigkeit. Über seinen Tod hinaus kann jedoch der einzelne das Leben anderer mittragen, wie andere, die vorher gelebt haben, sein Leben mittragen. Menschliches Wirken kann mit dem Tod nicht verlöschen, es bleibt nicht ohne Bedeutung, ohne Einfluss auf die Lebendigen.“
Ähnlich drückte es auch Forrest Church aus:
„Wir werden aus einem großen Geheimnis heraus geboren und sterben in ein großes Geheimnis. Das Wunder liegt in der Mitte. Befinden wir uns auf halbem Wege zwischen Nichts und Nichts? Oder auf halbem Wege zwischen Allem und Allem? Das Leben ist ein Wunder, das sich zwischen zwei Geheimnissen abspielt. Wir missachten es, wenn wir es für selbstverständlich nehmen oder nach mehr verlangen. Ich bin mir nicht sicher, ob es ein Leben nach dem Tod gibt. Ich weiß aber sicher, dass Liebe unsterblich ist und jeder Akt der Zuneigung in diesem Leben das Leben der Menschen, die nach uns kommen, mit trägt. Unsere Liebe lebt weiter. Das Einzige, was der Tod uns sicher nicht nehmen kann, ist die Zuneigung gegenüber anderen, die wir in unserem Leben zum Ausdruck gebracht haben, bevor wir sterben.“
In diesem Sinne hat mein Großvater ein großartiges Leben gelebt; seine Liebe lebt in seinen Kindern, Enkeln, Urenkeln und den Menschen weiter, denen er sie geschenkt hat. Die höchste Ehre, die man einem Toten entgegenbringen kann, ist nicht die Trauer – so wichtig sie auch ist –, sondern Dankbarkeit. Diese neue Sicht auf die Dinge hat mir emotional das Tor zu dem Thema Religion aufgestoßen, dem ich mich bisher nur intellektuell nähern wollte oder konnte. Im gleichen Jahr las ich das Buch „A History of God“, auf Deutsch „Eine Geschichte von Gott“, von Karen Armstrong, in dem sie sich nicht etwa theologisch mit der Frage beschäftigt, ob Gott existiert, sondern beschreibt, wie sich das Gottesbild der Menschen über 4000 Jahre hinweg immer wieder den gesellschaftlichen Bedürfnissen angepasst hat. Sie zitiert an einer Stelle Blaise Pascal, der in einem seiner Bücher Gott sagen lässt: „Du würdest mich nicht suchen, wenn Du mich nicht bereits gefunden hättest.“
Über diesen Satz bin ich im wahrsten Sinne des Wortes gestolpert und ich habe Tage lang über ihn nachgegrübelt. Erst dieser Satz hat mich dazu veranlasst, das Vergleichen verschiedener Religionen einzustellen und mich stattdessen auf die Suche nach einer unitarischen Gemeinschaft zu machen. Ich wollte mich mit Religion nun nicht mehr nur alleine zu Hause auf intellektueller Basis beschäftigen, sondern ähnlich denkende Menschen suchen, um eine Gemeinschaft zu finden.
Also versuchte ich noch einmal eine geistige Verbindung, einen Anknüpfungspunkt zu finden, der mich von den Unitarian Universalists in den USA zu etwas Vergleichbarem in Deutschland führen könnte. Und diese Brücke konnte ich über den Begriff „religious humanism“ finden. Wörtlich übersetzt würde er „religiöser Humanismus“ bedeuten, frei übersetzt verlinkt aber die englischsprachige Seite des Online-Lexikons Wikipedia den Begriff „religious humanism“ auch heute noch mit dem deutschen Begriff „Freireligiöse Bewegung“. Mit diesem einen Klick hatte ich endlich die Verknüpfung zu einer geistesverwandten Bewegung in Deutschland gefunden, daran bestand schon beim Lesen des ersten Satzes kein Zweifel:
„Die freireligiöse Bewegung ist eine Glaubensrichtung, die auf formelle Lehren und Bekenntnisse verzichtet. Menschenrechte, Toleranz zwischen den Menschen und Werte des Humanismus werden unterstützt.“
Freireligiöse Gemeinden sind heute geprägt – das haben wir an diesem Wochenende ja auch erlebt – durch atheistische, humanistische, agnostische und unitarische Strömungen. Allen Richtungen der freien Religion ist jedoch gemein, dass sie unter dem Motto „Frei sei der Geist und ohne Zwang der Glaube“ jede Art von dogmatischer Bindung in Glaubensfragen ablehnen und stattdessen auf eine persönliche Selbstbestimmung in Glaubensfragen setzen, die ihre Wurzeln in der Humanität hat und die im Einklang mit der Natur steht. Der Gebrauch der eigenen Vernunft – ganz in der Tradition der Definition der Aufklärung nach Kant – sowie der Vorrang wissenschaftlicher Erkenntnisse sind selbstverständlich.
Freie Religion ist nicht „fertig“, nicht endgültig abgeschlossen. Freie Religion will aus der Einsicht in die Unmöglichkeit, letzte Fragen endgültig beantworten zu können, undogmatisch bleiben. Sie lässt viele verschiedene Antworten zu, im Bewusstsein dessen, dass nicht jede Antwort für jeden dieselbe sein muss. Dennoch organisieren wir uns in Gemeinden, da die Bedeutung von Gemeinschaft auch darin besteht – wie Alexander Schmahl es ausgedrückt hat – „im Gespräch miteinander zu bleiben“.
Lösten sich Freireligiöse auch immer mehr von kirchlichen Dogmen und Bekenntnissen, so trennten sich die meisten aber nicht von der Religion, sie verstehen Religion nur anders. In ihrem Religionsverständnis folgen viele von uns Friedrich Schleiermacher, der Religion definierte als „etwas, was den Menschen im Innersten bewegt, was ihn zutiefst angeht, was ihm wesentlich ist“. „Religion ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche.“ Religion im freireligiösen Sinn ist der innere Teil von Religion, nicht der äußere Teil, der sich in Ritualen, Gebäuden und Regeln zeigt.
Freie Religion wird demnach begriffen als eine innerliche Angelegenheit des Menschen, die – wie es der Religionsphilosoph Arthur Drews ausdrückte – „nicht an eine bestimmte Lehre oder Offenbarung, an heilige Bücher oder Religionsstifter gebunden ist, sondern sich im Einzelnen selbst ereignet als das Innerlichste, was sich denken lässt“. So bleibt es auch jeder Gemeinde und jedem Einzelnen überlassen, wie er selbst mit dem Begriff „Gott“ umgehen möchte. Es ist aus meiner Sicht absolut in Ordnung, auf diesen Begriff zu verzichten, genauso wie es in Ordnung sein sollte, ihn unter unseren Vorzeichen zu verwenden.
Wie Sie sicher gemerkt haben, verwende ich den Begriff „Gott“. Allerdings ging mir der Begriff am Anfang nicht leicht von den Lippen. Er ist überfrachtet mit einem traditionellen Gottesbild, das wir als Religion der Aufklärung schwer teilen können. Mühsam und langsam habe ich den Begriff für mich entkernt und persönlich zugänglich gemacht. An dieser Stelle möchte ich noch einmal Sigurd Taesler zitieren: „Das Grunderlebnis unitarischer Religion ist die Ehrfurcht vor Gott, als dem alles umfassenden, alles durchdringenden ewig Einen, das sich im ganzen Universum, in allem Leben, vor allem im Menschen unmittelbar offenbart. Das Zeichen, die Chiffre „Gott“, im Sinne eines Wort-Symbols verstanden, weist nur auf die letzte Wirklichkeit, die alles umfasst, durchdringt und trägt, hin.“ „Gott“ ist sozusagen ein mathematisches X. Ein Symbol für das Unbekannte, oder wie es Forrest Church ausdrückte:
„Der Begriff „Gott“ ist nicht der Name einer Gottheit, sondern unser Begriff für das, was unsere Vorstellung übersteigt und doch in jedem präsent ist.“
Je mehr wir Menschen also versuchen, das Göttliche in Worte zu fassen, desto weiter entfernen wir uns von jenem Ewigen und Unerforschlichen, welches wir als „Gott“ bezeichnen können. Aber kommt es schlussendlich für uns wirklich auf die Begrifflichkeit an? Ist die Frage, ob wir den Begriff „Gott“, „Sinn“, „Weltsinn“, „Ursprung“ oder „Natur“ verwenden, wichtig? Wir ähneln uns mehr in unserem Nichtwissen, als dass wir uns in unserem Wissen über diese Begriffe unterscheiden. Da wir über das Jenseitige und Transzendente keine Aussage treffen können, bleibt uns nur, uns um Verständnis und Güte im menschlichen Zusammenleben in dieser Welt zu bemühen und achtsam durchs Leben zu gehen. Ralph Waldo Emerson hat einmal gesagt: „Würden die Sterne nur in einer Nacht alle 1000 Jahre erscheinen, was würden die Menschen staunen und nach oben starren.“
Die Welt bietet sich uns jeden Tag an. Wir können das Großartige und Schöne dieses Lebens in jedem Augenblick in jeder Kleinigkeit sehen. Wir müssen uns hierfür nur öffnen und bereit sein, es auf uns wirken zu lassen. Ich ertappe mich selbst auch dabei, viel zu selten innezuhalten, tief einzuatmen, den Wind auf meinem Gesicht zu spüren, den Vögeln zuzuhören und entspannt auszuatmen. Vielleicht ist es einfach wichtiger, im Hier und Jetzt achtsam zu sein, als sich abstrakt über Fragen zu streiten, die die Ewigkeit betreffen. Schlussendlich ist die freie Religion eine Religion der Taten, nicht der Worte, wie Thomas Jefferson es schon ausdrückte.
Neben den großen Fragen – „Woher kommen wir?“ und „Wohin gehen wir?“ – stehen auch die ganz konkreten Fragen: „Was machen wir nun? Wohin geht die Reise als freireligiöse Gemeinschaft?“. Wie auch immer unsere Antwort auf diese Frage lautet, ein Teil der Antwort muss die Worte „zusammen“ und „gemeinsam“ beinhalten. Der unitarische Pfarrer Robert Fulghum hat hierzu gesagt: „Wir kommen hier zusammen, weil wir einander brauchen. Wir bezeichnen dies als eine religiöse Gemeinschaft, nicht etwa weil wir uns auf heiligem Boden treffen, sondern weil das, was wir hier zusammen tun, was wir zusammen sagen, was wir hier zusammen sind, es zu etwas Besonderem macht.“
Die meisten von uns verstehen freie Religion nicht als Alternative zu Religion, sondern als eine alternative Religion. Eine freie Religion. Eine friedliche und tolerante Religion. Und hierfür besteht auch Bedarf in der Welt. Ohne missionieren zu wollen, sollten wir wahrnehmen, dass die Gedanken, die der freien Religion zugrunde liegen, gegenwärtig so aktuell sind wie selten. Wir leben in Zeiten, in denen der Schweizer Philosoph Allain de Botton die Frage aufwirft: „Warum sollen nur religiöse Menschen in den Genuss der schönsten Gebäude kommen? Es ist die Zeit gekommen, dass auch Atheisten ihre eigene Version von Kirchen und Kathedralen bauen sollten! Man kann Tempel für alles bauen, was positiv und gut ist. Mir kommt da z.B. ein Tempel für die Liebe, für Freundschaft oder für Stille in den Sinn.“
Und wir leben in Zeiten, in denen es seit einigen Jahren, von London ausgehend, eine Bewegung gibt, die sich „Sunday Assembly“, also Sonntagsversammlung, nennt. Darunter versteht man eine Versammlung nichtreligiöser Menschen – ich möchte ergänzen: nicht-religiös im traditionellen Sinne von religiös –, die in erster Linie das Ziel hat, Menschen ohne Konfession zusammenzubringen und ihnen ein positives Gemeinschaftserlebnis zu bieten, das auf Bezüge zu traditionellen religiösen Vorstellungen verzichtet. Das Motto der Sunday Assembly lautet: „Live better, help often and wonder more“ – auf Deutsch etwa „Lebe besser, hilf oft, staune mehr“ bzw. „Lebe besser, hilf oft, denk mehr nach“.
Während der Sonntagsversammlungen hören die Besucherinnen und Besucher kurze Vorträge zu wissenschaftlichen oder philosophischen Themen, singen gemeinsam Popsongs und knüpfen Kontakte zu anderen Menschen. Obwohl die Sonntagsversammlungen sich in erster Linie an nichtreligiöse Menschen richten, sind auch traditionell religiöse Menschen ausdrücklich zum Besuch eingeladen. Das Selbstverständnis lautet: „Jede und jeder ist willkommen, unabhängig von seinem Glauben – dies ist ein Ort der Liebe, der für Offenheit und Akzeptanz steht“. Kommt uns das nicht bekannt vor?
Unsere Botschaft einer freien Religion ist nicht nur für uns höchstpersönlich befreiend und relevant, sondern wir haben auch der Gesellschaft etwas anzubieten. Nämlich unser Fenster, durch das das Eine Licht scheint. Unseren eigenen Blickwinkel auf die Welt. Diesen sollten wir ihr nicht vorenthalten.
Dennis Grieser