Der Mensch bedarf der Bilder, seine Sinnlichkeit verlangt danach. Der Mensch will die Dinge anschauen, er will ihre Anschaulichkeit. Sich mit der Welt auszutauschen, dazu ist Bildhaftigkeit vonnöten. Das Bild ist immer Instrument des Austausches, ein Mittel, das wir in Anspruch nehmen, um miteinander reden zu können. Wir sprechen immer auch in Bildern zueinander. Die deutsche Sprache verrät dies aufs feinste im Wort „Sinnlichkeit“; es ist in ihm sowohl die „Bedeutung“ angesprochen, wie auch die Fähigkeit des Körpers zu reagieren. Durch unsere Sinnlichkeit tauschen wir uns aus über die Dinge, über die Erscheinungen, über das, was uns bewegt.
Die Mythen sind die Bilder unserer Sinnlichkeit selbst. Sie sind Bilder, die wir brauchen, um uns zurechtzufinden in einer Welt, mit der umzugehen immer schwerer fällt: Es wurde einmal gesagt, dass die Mitmenschlichkeit im gleichen Augenblick aufhört, in dem es keine gemeinsame Bildersprache mehr gibt, keine Mythen mehr, durch die wir kreativ unsere Verbundenheit mit der menschlichen Gemeinschaft begründen können. Sinnlichkeit ist gefordert, doch dies klingt sehr abstrakt. Wenn wir uns heutzutage mit jemandem unterhalten, drängt es sich da nicht oftmals auf, dass wir eigentlich einen Dolmetscher brauchten, um einander zu verstehen? Dies gilt nicht nur für das Verständnis dessen, was gedacht wird, sondern vor allem für das Verständnis dessen, was an Gefühlen dahinter steht. Das gegenseitige Verständnis ist mittlerweile ein kostbares Gut geworden und das Vermittelnkönnen eine Rarität. Gar nicht so selten stellt sich dann bei einer Unterhaltung die Überlegung ein, leben wir mit dem betreffenden Gegenüber in ein und derselben Welt? Dies ist eine Problematik, die uns in anderer Form schon öfters beschäftigt hat, nämlich in der Frage der modernen Gesellschaft, welche Aufgaben, welche Gefahren, welche Nöte sie für den Menschen bringt, nicht zuletzt im Hinblick auf das, was unsere Religion als Antwort zu geben vermag. Dies zu überlegen ist immer notwendig und verweist auch stets auf einen Umstand, dass eine Bewegung wie die der freien Religion, die hauptsächlich im vorigen Jahrhundert entstanden ist, ihre Antworten auf die damalige Zeit gegeben hat.
Religionen sind immer mit Gewändern der Zeit angetan. In den Äußerungen der Religionen spricht sich stets die jeweilige Zeit aus. Damit ist dem Menschen die große Aufgabe gestellt, das Vergangene zu übersetzen, die Bilder der Vergangenheit lebendig in sich wachzurufen. Religion ist immer etwas sehr Konservatives, sie bewahrt das uralte seelische Erbe des Menschen. Das ist ihre Natur, doch bei allem Konservativen muss sie in der Lage sein, die Fragen der Zeit zu beantworten. Die Moderne ist eine Zeit mit einer besonderen Problematik, die darin liegt, dass die Selbstverständlichkeit der Werte gebrochen erscheint. Die Geschichte des Bruchs reicht weit über die Aufklärung des 18. Jahrhunderts hinaus und fand in der Säkularisation von 1803 ihre Wegmarke, um im 20. Jahrhundert ihre Blüte zu erhalten. Auch die Entstehung unserer Gemeinde ist mit dem schon ansetzenden Bruch des Christentums verbunden, was die Selbstverständlichkeit seiner Werte anbelangt. In der Epoche des Mittelalters wurden die zentralen Inhalte der christlichen Religion nicht in Frage gestellt. Ihre Bilder, ihre Mythen galten als unumstößlich, als verbindliche Zentren eines sprachlichen Austausches, in dem sich der Mensch als Mensch fand. Und doch war der Bruch schon in jenen Jahrhunderten verspürbar in den Werken einzelner, die große Schritte im Hinblick der Aufklärung unternahmen. Aber in einem allgemein einsetzenden Sinne war sie, die Aufklärung, nicht verspürbar, in jener Frage nach dem Inhalt, nach der Substanz und ihren Bildern, die es zu klären und zu deuten galt. Die Aufklärung nahm sich die Bildhaftigkeit der christlichen Aussagen zum Inhalt und begann, sie als Mythen zu deuten. Und dies ist der vollzogene Bruch jener Selbstverständlichkeit der Werte, die in den religiösen Bildern geborgen waren. Aber noch ein weiteres: Nicht mehr Thron und Altar waren der bestimmende Maßstab aller Werte als Vertreter des Höchsten, sondern der neue Maßstab wurde in einem großen „Du sollst“ gefasst, der nunmehr alles prägen sollte.
Zug um Zug, schon zu Beginn des Humanismus, der reformatorischen Bewegungen, schließlich gipfelnd in Aufklärung und Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft, wurde der Maßstab der Werte, der Maßstab für die Werte in den einzelnen Menschen verlagert. Nicht mehr Thron und Altar, sondern das allmählich immer freier werdende Individuum war Ort und Quelle dessen, was Wert, was Weg und Ideal ist. Wenn wir das so betrachten, zeigt das natürlich ein ungeheures Problem. Es tut sich ein Zwiespalt auf zwischen der notwendigen Geborgenheit des Menschen in einem Wertesystem auf der einen Seite und einer Freiheit, die im Grunde genommen in einer sehr dünnen, kalten Luft zu leben hat, bar jeder Geborgenheit. Diese Freiheit tut sich ungeheuer schwer in einer Welt, in der zunehmend der Bildungsstoff immer undurchsichtiger wird. Sich doch zurechtzufinden und zu sagen, das ist ein Wert, den will ich akzeptieren, und ich habe sogar die Kraft es zu tun, das ist eine hohe Kunst geworden. Die Folge der Freiheit ist die Isolation der Werte und der Individuen. Die Vereinzelung der Menschen steht im Zentrum der modernen Welt. Wir sehen das an allen Ecken und Enden. Die beständigen Ehen, die Großfamilien, die dörflichen, ländlichen Gemeinden, die Gemeinschaft in der Stadt haben wir nicht mehr, diese Funktion, diese Selbstverständlichkeit, die wir ja einmal gehabt haben oder gehabt zu haben meinten. Dies ist aber nicht die Stunde der Klage, sondern es ist die Stunde der Bestandsaufnahme und der Frage, was zu tun ist.
Ist die Selbstverständlichkeit von Werten zerbrochen, dann auch die sinnlichen Bilder der Werte, die Mythen. Und doch ist das sinnliche Bedürfnis nach Bildern genauso vorhanden wie die Mythen selbst, doch sie leben nunmehr in Verdeckungszusammenhängen, und das macht ihre Macht aus. Eine Macht, die die Mythen nicht nur in der Neuzeit haben, sondern immer schon. Werden wir von Mythen beherrscht ist eigentlich die Frage, die nicht so sehr den modernen Menschen betrifft, sondern eine Frage, die ja in das Zentrum des Menschseins geht und natürlich erst mal insoweit zu klären ist, was Mythos ist und wovon eigentlich der Mensch beherrscht werden soll oder beherrscht wird. Das ist gar nicht so leicht. Was ist ein Mythos? Wenn wir Mythos so weit bestimmen, dass er der Inhalt der Seele ist, dann ist das natürlich sehr weitgehend und geht über das hinaus, was allgemein als Mythos beschrieben wird. Sie kennen die Mythen aus der griechischen Kultur, der römischen, der germanischen Kultur, und auch viele andere Kulturen haben ihre Mythen, ihre Geschichten, die in grauen Vorzeiten spielen. Sie bestimmen das Verhältnis von Mensch zu Mensch, von Mensch zu Gott. Dies tun sie nicht in einem abstrakten, theoretischen Sinne, sondern in einer Handlung, in einer szenischen Darstellung. Die Mythen sind immer Szenerien, Geschichten von Handlungen, von Ereignissen, die aber, wenn wir genau hinschauen, nicht die Geschehnisse grauer Vorzeiten darstellen, auch nicht darstellen wollen, sondern etwas Allgemeines aussagen, das Wesen des Menschen wiedergebend in seinem tragischen Sinne, in seinem schöpferischen Sinne, in seinem Umgang mit der Welt, mit sich selbst und seiner Gemeinschaft. Das war die Aufgabe, die die Tragödiendichter des klassischen Griechenland wie kaum andere in der gesamten Geistesgeschichte erkannt und bewusst ins Zentrum ihrer Werke stellten. Von ihnen ist auf eine unüberholbare Weise gesagt, was der Mythos ist. Im Mythos kommen die tiefen Dimensionen des Menschen, sein sonst verdecktes Wesen zur Aussprache, zur szenischen Darstellung. Der Mythos ist der Mensch, der ihn betrachtet, der ihn sich ansieht, anhört, der ihn liest und von innen sich sichtbar macht, dieser Mensch erfährt dadurch sein Wesen, kommt mit ihm in Berührung. Das war die berühmte Katharsis, d.h. Reinigung, die der Zuschauer der antiken Tragödie erlebte, der Kern der religiösen Dimension des antiken Theaters, in dem der Mensch Reinigung findet im Erleben dessen, was sein Wesen ausmacht, wie es in der Tragödie zur sichtbaren Sprache kommt. Der Mensch schaut sein Wesen an.
Wenn der Mythos etwas ist, was das Wesen ausmacht, müssten wir nicht im Grunde genommen dann sagen, dass wir von unserem Wesen beherrscht werden, oder nicht? Werden wir von uns selbst beherrscht? Das ist eine ethische Frage, die gar nicht mal so leicht zu beantworten ist. Haben wir uns so weit im Griff, dass wir von oben bis unten, von hinten bis vorn uns verstehen? Wissen wir, ob das, was wir tun, immer durchdacht, fugenlos und lückenlos ist, ja, im Grunde genommen auch fehlerlos? Verstehen wir uns, dann ist uns ja alles einsichtig, und wenn uns alles einsichtig ist, dann gibt es ja gar keinen Grund, Fehler zu machen. Aber wenn wir auf uns schauen, so finden wir Lücken, Unzulänglichkeiten, Fehler und – das ist viel bedeutsamer – Unverständlichkeit. Es hat nichts mit dem Alter zu tun, das hat mit dem Menschsein zu tun auf jeder Stufe seines Lebens, und das ist das Thema. Das ist ein ganz entscheidendes Thema. Wäre der Mensch in der Lage, sich zu verstehen, sein Wesen zu begreifen, brauchte er dann Religion? Die Religionen treten da auf, wo der Mensch sich selbst rätselhaft vorkommt.
Was ist Religion anderes als ein Unternehmen, das Wesen des Menschen in einer Bildersprache zu deuten? Es sind die sinnlichen Bilder der Hoffnung, der Sehnsucht, aber auch des Leidens und des Sterbens, die in ihrer Anschaulichkeit den Menschen ansprechen können. Wird der Mensch aber von diesen Bildern, von den Mythen beherrscht? In dem Maße und in dem Augenblick, wenn wir sie nicht erkennen, wenn wir nicht dahin kommen, sie anzublicken, in dem Augenblick, in dem wir keine Griechen mehr sind, die in der Lage sind, ins Theater zu gehen, „sich selbst in der Szene zu erblicken“ und dadurch eben jene Reinigung zu erfahren, die für Seele und Geist des Menschen unabdingbar ist, werden wir von ihnen beherrscht. Je undurchsichtiger die Verhältnisse, desto mehr werden wir Sklaven und desto mehr werden wir von dem Undurchschaubaren beherrscht. Eigenartigerweise, je mehr Freiheit der Mensch bekommt, desto undurchschaubarer scheint er zu werden. Je mehr Freiheit er bekommt, desto weniger vermag er an Freiheit in den Händen zu halten. Das könnte man bedenken. Das ist eine Funktion, die wir sehr leicht nachvollziehen können. Die moderne Gesellschaft ist auf Manipulation der Menschen aus, via Konsum, Anreiz der Unterhaltung aller Sinne. Wenn wir kritisch sind, merken wir, dass wir uns dieser Manipulation in zunehmendem Maße nur sehr, sehr schwer entziehen können. Die Freiheit des Menschen, und das ist wirklich eine uralte und bedeutsame Linie, liegt in der Erkenntnis der einzelnen Dinge. Das ist unabdingbar. Je mehr wir die Dinge erkennen und verstehen, desto mehr vermögen wir uns und unsere Welt zu verstehen, wobei die Erkenntnis nicht eine wissenschaftlich kopflastige sein darf, sondern immer auch eine Erkenntnis des Herzens, des Lieben Könnens; denn eine Erkenntnis ohne Liebe ist nichts.
Werden wir von Mythen beherrscht? Wir hatten schon verschiedene Antworten gegeben. Wir werden beherrscht, wenn wir die Dinge nicht betrachten, wenn wir nicht Zusammenhänge sehen und suchen zu wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Das ist die Kernfrage der Religionen. Die Religionen geben ihre Antworten, wir tun es auch, denn wir haben auch eine Religion. Beherrscht werden heißt eigentlich nur, Leben ohne Erkenntnis zu haben, vom eigenen Wesen beherrscht zu werden. Auch das ist nicht fremd. Es gibt Menschen, die werden von ihrem Charakter beherrscht, sie haben keine Freiheit in ihrer Sicht, die sie von ihren Fehlern zu lösen vermag, weil die Fehler so stark sind, dass sie eine Herrschaft ausüben, die nicht zu beseitigen ist, Ketten, die nicht zu zerreißen sind. Das ist das andere Bild des Menschen, der Mensch in der Armut seines Charakters. Wie sieht die Zukunft aus? Die Zukunft hebt an, und das ist die Aufgabe der Vergangenheit. Die Aufgabe des Menschen ist, und darin lebt er, Dinge zu betrachten, die sich erschließen und aufgrund seines Bezuges zum Absoluten seine Freiheit zu gewinnen. Die Freiheit, die gemeint ist, findet sich in der Aufgabe der Einsicht in die Zusammenhänge. Darin soll der Mensch gleichsam ein Instrument des Austauschs all der Mannigfaltigkeit werden, die es gibt. Nicht zuletzt sei die Aufgabe des Menschen dahingehend beschrieben, seine eigenen Gefühle und Handlungen und die der anderen Menschen verstehen zu lernen. Damit ist auch ein „Übersetzenlernen“ gemeint, die Bildersprache, die der Mensch gebraucht, sich aufzuschlüsseln.
Dr. Manuel Tögel